JENSEITS DER MAUER...
Man schreibt den Sommer 1974, ich war gerade eben 14 Jahre alt geworden und feierte mit meiner Familie meinen Geburtstag in unserem Garten. Sämtliche Verwandte, sogar Tante Rita aus Kassel, war extra angereist.
Es war ein heißer Tag, wir Kinder tranken kalte Limonade und hatten jede Menge Spaß! Mein Vater arbeitete in einer Bank als leitender Angestellter und von der letzten Firmengrillfeier hatte er uns die Heliumflasche mitgenommen. Was für ein Spaß!
Jedes Kind erhielt einen gefüllten knallroten Luftballon. Schnell wurde entschieden einen Zettel mit unserer Adresse daran zu befestigen und ihn ahnungslos in Richtung Himmel steigen zu lassen. Wer weiß schon wo es ihn hintreibt? Vielleicht bleibt er an irgendeinem Baumwipfel hängen, vielleicht aber schafft er es ja auch bis zu den Sternen? Unsere unschuldigen Köpfe sponnen die wildesten Gedanken.
Das war der Sommer als ich mein geliebtes Waffenrad bekommen hatte, ich war so stolz darauf und bin die ganze Zeit in der Nachbarschaft damit herum gefahren. Liebevoll putzte ich es jeden Tag bevor ich es wieder sicher im Schuppen hinter unserem Haus verstaute.
Die Monate vergingen und ich hatte keinen Gedanken mehr an meine Geburtstagsfeier verschwendet, als ein – an mich adressierter – Brief im Postkasten lag. Mit der Briefmarke konnte ich nicht viel anfangen, sie sah merkwürdig aus. Meine Mutter erklärte mir, dass ich Post aus „dem Osten“, ja so nannte sie es und setzte dabei einen schweren Tonfall auf, bekommen hatte. Ich konnte mich noch vage daran erinnern, dass meine Eltern und die gesamte Nachbarschaft über die Mauer gesprochen hatten.
Eilig öffnete ich den Brief und las die schön geschriebenen Zeilen:
Lieber Peter,
ich habe soeben deinen Zettel an einem kaputten Luftballon gefunden. Meine Eltern haben mir erlaubt, dass ich dir schreibe. Ich heiße Anna, bin 14 Jahre alt und lebe in der Karl-Marx-Stadt. Ich wünsche dir nachträglich nochmal alles Gute zum Geburtstag!
Alles Liebe, Anna Kornetzky
Unter den Zeilen befand sich eine wunderschöne Zeichnung eines knallroten Ballons der bis zu den Sternen hinauf flog.
Von diesem Moment an wusste ich, dass ich Anna liebte. Es war eine unschuldige Liebe, die mich aber nicht mehr zur Ruhe kommen ließ. Sie hatte mir, Gott sei Dank, auf dem Kuvert auch ihre Adresse hinterlassen und so entwickelte sich eine wunderschöne Brieffreundschaft die wir beide nicht mehr missen wollten. Anfangs akzeptierten ihre Eltern unsere harmlose Verbindung noch, doch als Anna dann 16 Jahre alt wurde, sollte sie zur Arbeit in eine andere Stadt ziehen. Sie schrieb mir herzzerreißende Briefe die sich Wort für Wort in mein Gedächtnis brannten.
Mittlerweile hatte ich mich auch intensiver mit der DDR beschäftigt, wusste, dass es kein „Entkommen“ gab. Ich wollte Anna einfach in meiner Nähe haben, koste es was es wolle. Gemeinsam konnten wir alles schaffen, davon war ich überzeugt.
Ich wusste nicht, ob unsere Briefe kontrolliert wurden, durfte aber kein Risiko eingehen. Ohne meine Eltern zu informieren besorgte ich mir ein Einreisevisum für die DDR, nachdem ich nur die Berechtigung für das Stadtgebiet von Ost-Berlin erhielt, verabredeten wir uns dort an einer Kreuzung in Pankow. Ich setzte mich selbstbewusst in einen Bus, der mich meiner Anna näher bringen sollte. Die Nacht zuvor konnte ich kein Auge zumachen, so nervös war ich. Heimlich hatte ich mir mein bestes Hemd im Schuppen versteckt. Meinen Eltern erzählte ich, dass ich mich mit meinem Freund Lars zum Angeln verabredet hatte und ich danach bei ihm übernachten wollte. Von meinem letzten Geld hatte ich noch Schokolade gekauft, die ich Anna überreichen wollte.
Nach stundenlanger Anfahrt und akribischen Kontrollen am Grenzübergang Helmstedt erreichte ich beinahe schon mein Ziel. Auf die Frage: „Was ist der Grund ihres Besuches in der Deutsch Demokratischen Republik?“ antwortete ich selbstbewusst, dass ich Verwandte in Berlin wiedersehen wollte. Die Grenzpatrouille sah mich skeptisch an, ließ mich jedoch einreisen. Mein Herz raste, ich strich mir nervös mit der Hand über die Stirn. Nur noch wenige Momente und ich würde meine Anna in die Arme schließen können. Hoffentlich fand ich sie gleich.
Nachdem ich aus dem stickigen Bus ausgestiegen war lief ich in Richtung Pankow. Wie erhofft stand sie an der Kreuzung, ich konnte ihren suchenden Blick erhaschen. Sie hatte sich ein knallrotes Kleid angezogen, wie vereinbart. Ihre langen blonden Haare hatte sie streng zu einem Pferdeschwanz gebunden. Das war der wunderschönste Anblick, den ich in meinen jungen Jahren erleben durfte. Als sie mich erkannte, hellte sich ihr Gesicht auf – meine Güte, sie hatte ein bezauberndes Lächeln. Wir rannten aufeinander zu und trafen uns in der Mitte. Freudig fielen wir uns in die Arme und ließen uns minutenlang nicht mehr aus, niemand bewegte sich, keiner wollte DIESEN Moment zerstören. Diese Wärme die in meinem Körper aufstieg, dieses Gefühl der Glückseligkeit wollte ich für immer spüren. Anna ließ mich kurz los um mir eine Schachtel zu zeigen, die sie bei sich trug. Darin befanden sich, mit einem roten Samtband, zusammengebundene Briefe – meine Briefe an sie. All meine Worte die ich voller Liebe an sie geschrieben hatte waren darin gesammelt. Unter all dem Papier entdeckte ich ein rotes Ding blitzen. Grinsend hob sie es aus der Box. Es war MEIN Luftballon, daran befanden sich noch immer die Schnur und der Zettel mit meiner krakeligen Schrift.
Lieber Finder!
Mein Name ist Peter Ludwig, ich feiere gerade meinen 14. Geburtstag. Wenn du diesen Luftballon irgendwo findest, bitte erfülle mir einen Wunsch und schreibe mir ein paar Zeilen zurück. Ich danke dir im Voraus, Aufs Höflichste, dein Peter Ludwig (Adresse befindet sich auf der Rückseite)
Ich bemerkte wie mir Tränen in die Augen schossen und ich sah in ihr Gesicht. Sie reichte mir ihre Hand und wir wollten gerade losgehen, als mich eine weitaus kräftiger Hand und wildes Geschrei von Anna los riss. Direkt hinter mir stand ein Volkspolizist und schrie mich lauthals an, ich sei verhaftet, ich kann mich an die Anschuldigung gar nicht mehr erinnern, so geschockt war ich. Im Hintergrund bekam ich noch mit, dass Anna von einem älteren Ehepaar in Beschlag genommen wurde. Sie riss sich weinend von ihnen los und lief auf mich zu. Ich erreichte nur noch eine Hand und küsste diese mit aller Leidenschaft. Wir wurden grob voneinander getrennt, ich höre heute noch ihr Geschrei!
Dies war wohl das letzte Mal, dass ich meine Anna Kornetzky sehen sollte. Ich wurde tagelang in Haft gesperrt bevor ich aus der DDR verwiesen wurde. Meine Eltern mussten mich am Grenzübergang übernehmen. Sie waren so peinlich berührt und ich musste ihnen versprechen nie ein Wort darüber zu verlieren. Ich hatte noch eine Weile versucht Kontakt aufzunehmen, dieser wurde von ihren Eltern jedoch strickt unterbunden. Anna schien für immer verloren.
Die Jahre vergingen, ich lernte auch andere Mädchen kennen, lernte auch sie zu lieben, jedoch nie mit der Intensität die ich Anna entgegen gebracht hatte. Eine tragische Liebe, die uns womöglich nicht bestimmt war. Nach dem Fall der Mauer 1989 versuchte ich noch Nachforschungen anzustellen, jedoch erhielt ich keine Auskunft, es war aussichtslos.
Mittlerweile bin ich zweifacher Vater und ich liebe meine Familie abgöttisch.
Meine Tochter Anna kommt gerade auf mich zugelaufen und fragt mich, warum ich schon wieder so gedankenverloren aus dem Fenster blicke. Ich sehe ihr tief in die Augen und grinse sie liebevoll an. Sie trägt ein Kuvert in ihrer Hand. „Papa, das hat der Postbote gerade abgegeben, es ist für dich!“ Gespannt öffne ich den Umschlag und heraus fällt – mein Ballon. Ich bemerke wie mir die Tränen in die Augen steigen, meine Tochter sieht mich ratlos an.
„Anna, geh doch zu deinem Bruder ins Zimmer und frag ihn ob er mit dir etwas spielt, ja mein Schatz?“
Ich öffne das gefaltete Papier und lese die Zeilen auf die ich jahrelang gewartet hatte.
Mein liebster Peter!
Nun habe ich dich endlich gefunden. Ich dachte du solltest deinen Ballon wieder bekommen, er hat mir über die Jahre so viel Kraft geschenkt. Mir geht es gut, ich bin glücklich. Ich wollte dir nur von Herzen danken, dass du mich geliebt hast!
In ewiger Liebe, deine Anna
Schnell wende ich den Briefumschlag doch ich kann keine Absenderadresse ausmachen, ich versuche den Poststempel zu entziffern. Er ist so verschmiert, dass es mir unmöglich ist.
Ich habe mein immer erhofftes Lebenszeichen von Anna erhalten.
Ich gehe in die Küche, wo meine Frau gerade am Herd steht und das Mittagessen für uns zubereitet. Ich schlinge meine Arme um ihre Taille und küsse sie zärtlich ins Genick. Leise flüstere ich: „Schatz, du wirst es nicht glauben!“
Sie dreht sich zu mir um und schaut mich fragend an.
Ich halte wissend den Brief in die Höhe. Sie schlägt die Hände über den Mund zusammen, Tränen steigen in ihre Augen und sie reißt sie weit auf. „Ach du meine Güte! Mein Brief! Peter mein verschollener Brief an dich ist endlich angekommen!“ Glücklich fallen wir uns in die Arme und erinnern uns gemeinsam an die vielen verpassten Gelegenheiten und den immensen Zufall unseres Wiedersehens, der uns dann mit Gottes Willen letztendlich zusammenführte.
Denn was zusammen gehört, findet auch zusammen, davon bin ich überzeugt!
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